Die Karrierepolitiker der liberalen Demokratien bestimmen das Leben der Ukrainer sparsam mit Dosen humanitärer Hilfe, Medizin und Waffen. Um moralisch nicht allzu flexibel zu wirken, bringen sie links und rechts Etiketten an: wer ist ein Held, wer ist ein Täter, wer ist ein Opfer, wer ist ein Faschist. Jemanden einen Faschisten zu nennen ist beliebt, es soll an eine vergessene, aber beängstigende Vergangenheit erinnern. Diese wird immer gruseliger, je öfter sie aus dem Schrank geholt wird.
Die Erben der siegreichen Seiten des Zweiten Weltkrieges sehen ineinander den Geist des besiegten Feindes. Wechselweise wird behauptet, dass der „liberale Faschismus“ des Westens gegen den „russischen Großmachtfaschismus“ kämpft, der wiederum einen Krieg gegen den „ukrainisch-jüdischen Faschismus“ führt, dem auch die „russischen Faschisten“ des Russischen Freiwilligenkorps (RDK) dienen. Die Behauptung, ein Gegner sei ein Faschist, geht nie mit einer Erklärung bzw. einem Nachweis einher. Um ein berühmtes Gedankenexperiment zu paraphrasieren: Schrödingers Katze ist mit gleicher Wahrscheinlichkeit ein Faschist, als auch kein Faschist. Aufgrund einer solch willkürlichen Verwendung des Faschismusbegriffes wird es eines Tages für die italienischen „Grünen“ an der Zeit werden, gegen die Eröffnung eines Kraftwerkes zu protestieren, sollte jemand jene Energie nutzen wollen, die daraus resultiert, dass sich Mussolini in seinem Grab dreht.
Zusätzliches Öl ins Feuer gießen gekaufte oder ignorante Patrioten aus verschiedenen Ländern, die Russland als einen konservativen, Traditionalisten Staat darstellen und sich dabei auf das Gesetz zum Verbot von LGBT-Propaganda und einzelne Fälle von Razzien gegen- und Abschiebungen von Migranten berufen. Sie weigern sich jedoch beharrlich, die systematischen und statistischen Realitäten des Putin-Regimes zu erkennen. Doch nun zurück zum inflationären Faschismus-Vorwurf und wieso das falsch ist.
Der Faschismus ist nichts anderes als ein Regierungsmodell. Da hinter einer solchen Definition aber alles stehen kann ist es sinnvoller, über die Kriterien dieses Modells zu sprechen. Das erste, was den Faschismus von anderen Modellen unterscheidet, ist das Vorhandensein eines „mythischen Kerns“. Eine faschistische Bewegung hat immer eine visionäre Zukunftsvision, präsentiert durch das Prisma einer „heiligen Mission“. Das Putin-Regime hat keine solche „Mission“: der zivilisatorische Vektor des Eurasismus im Dugin-Stil ist zu einem rhetorischen Spielzeug in den Händen der Eliten geworden und hat keine Zukunftsvision anzubieten, sondern ist eine geopolitische Projektion. Wie wir wissen, haben die Putin-Anhänger keine Weltanschauung als solche: sie ziehen das äußere Flitter des leeren Patriotismus jedem inneren Gehalt vor. Ihre Handlungen spiegeln in keiner Weise den inneren Idealismus wider, es geht ihnen nur um den Profit: wir alle wissen um den ausschweifenden Lebensstil und die phänomenale Korruption in den Reihen der Putin-Funktionäre.
Ein weiteres Kriterium des Faschismus ist die Überwindung des Klassenkampfes durch die Schaffung besonderer Institutionen des Ständestaates, bei der Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch besondere Berufsverbände geregelt werden. Sie fehlen in Putins Staat, und die Eigentümer großer Unternehmen haben praktisch unbegrenzte Befugnisse zur Expansion und Aufteilung des Marktes, während die Rechte der Arbeitnehmer in keiner Weise geschützt sind. Das Modell der geringfügigen, mittels Gießkannenprinzips ausgeschütteten Alimentierung der Bevölkerung in Krisensituationen dient dazu, soziale Unzufriedenheit zu stoppen, doch in Wahrheit ist es nur eine Wiederbelebung des Verteilungssystem der Sowjetunion, das alle – außer bestimmte Eliten – arm hält. Es herrscht kein Mangel, sondern Armut, was die wirtschaftliche Situation noch surrealer macht.
Neben Identifikationskriterien gibt es auch Ausschlusskriterien; als feindselig erklärte Ansichten. Das Putin-Regime spricht ständig von „Antifaschismus“ und „Illiberalismus“, „Anti-Nazismus“, „Denazifizierung“ und „Antiwestlichkeit“. Es lehnt sowohl das liberale als auch das nationalistische Modell der gesellschaftlichen Entwicklung ab. Wir sehen, dass Putins Propaganda das gesamte Spektrum rechter Ansichten bewusst aus seiner Rhetorik ausschließt.
Ein weiteres Kriterium des Faschismus ist nicht zuletzt die Selbstbezeichnung, als eben solcher, wenngleich sich die wenigsten modernen Politiker selbst als „Faschisten“ bezeichnen würden. Aber Politiker verheimlichen ihre Zugehörigkeit zu rechten Kräften nicht, da ansonsten ihre Zielgruppe verloren ginge. Putin sieht sich selbst nicht als Nationalist, im Gegenteil, er identifiziert sich konsequent als Internationalist und Antifaschist. Da er ein autoritärer Herrscher ist, muss er seine Wählerschaft nicht einmal anlügen, sodass solche Aussagen seine Ideologie durchaus richtig widerspiegeln. Darüber hinaus wirft Putin in seiner Propaganda den westlichen Ländern „Faschismus“ vor – was dem klassischen marxistischen Faschismusverständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspricht.
In Putins Russland gibt es praktisch keinen ethnischen Nationalismus, im Gegenteil, er ist im Interesse des „interethnischen Friedens“ allen Arten der Verfolgung ausgesetzt. Das Ziel von Putins Russland ist der Ost-West-Antagonismus, der Völkermord an den Ukrainern im Namen einer sinnlosen und ungerechtfertigten Irredenta.
Putin bezeichnet sich offen als Antifaschisten, verteidigt die sowjetische Vergangenheit samt aller Kriegsverbrechen, heiligt Lenin, verherrlicht den Internationalismus, verdrängt Unternehmen und unterdrückt Nationalisten. Einzelne Aktionen gegen Einwanderer sind das Ergebnis reinen Populismus, einzelne Beispiele, die der Systematik des Regimes widersprechen. Russland verfolgt offiziell eine „Melting Pot“-Politik (und für einige wenige Völker innerhalb Russlands auch Multikulturalismus), eine Migrationspolitik der „offenen Tür“ samt Visafreiheit für zentralasiatische Länder. Selbst in dem seltenen Fall, dass Putin sich aus Gründen des Populismus als „Nationalist“ bezeichnet, meint er damit den bürgerlichen Nationalismus respektive Staatspatriotismus, bei dem ein „Russe“ eine Person jeder Nationalität und Religion sein kann.
In keinem Fall kann Putin als authentischer Nationalist, Traditionalist oder insbesondere, als Faschist bezeichnet werden. Es erfordert persönlichen Mut und die Überwindung der Unwissenheit, um zuzugeben, dass unser gemeinsamer Feind, der sich ganz klar als Antifaschist bezeichnet, nichts mit den faschistischen Bewegungen zu tun hat, sondern bewusst eine menschenfeindliche Ideologie wiederbelebt, nämlich den bolschewistischen Sozialismus nach sowjetischem Vorbild.
Wenn wir die derzeit gängigen Bezeichnungen beiseitelassen, stellt sich heraus, dass es in dieser Gleichung keinen Faschismus als solchen gibt. Russische Nationalisten des Russischen Freiwilligenkorps (RDK) kämpfen auf der Seite des ukrainischen Staates mit begrenzter materieller Unterstützung liberaler Demokratien gegen Putins Reinkarnation des Bolschewismus. Unter diesen Gesichtspunkten sollten wir die Realitäten dieses Krieges wahrnehmen.
Peter Weiss für das Russische Freiwilligenkorps


