Im ersten Teil dieses Aufsatzes haben wir uns bereits eingehend mit den Grundlagen befasst.
Bauwerke gestalten Landschaften, zusammen sind sie ein Kunstganzes. Bauwerke sind herausragende Träger des Ausdrucks von Gemeinschaften, von Völkern, Stämmen, Religionen, zugleich spiegeln sie den Geist und das Lebensgefühl kultureller Regionen und Epochen in ihrem Stil wider. In der Gestalt von Bauten und Stadtansichten gewinnen Völker ihr Profil. Das Bauen hat seine Eigengesetzlichkeiten im Vergleich zu den bildenden Künsten. Bauherr wie Baumeister haben die Forderungen ihres zweckgerichteten Vorsatzes zu erfüllen und dem Nützlichen zugleich eine ansprechende, also künstlerische und ästhetische Gestalt zu geben. Das schöpferische Neue erwächst aus der Tradition, setzt sie fort.
Innerhalb der Eigenprägung einer Gemeinschaft, die in Geist, Gestalt und Ausdruck ihrer Schöpfungen erkennbar wird, wir nennen sie den Stil, verbleibt großer Raum für persönliche Besonderheit und deren Entfaltung. Die Betrachtung der Baugeschichte und aller Architekturepochen kann hilfreich sein und wird die kreativen Persönlichkeiten dennoch nicht zu geistloser Nachahmung verleiten. Unverzichtbar ist das Eingehen der Auftraggeber wie der Ausführenden auf die sich wandelnden Zwecke und Bedürfnisse und deren zeitgemäße Erfüllung mit neuen sachgemäßen Lösungen, durch Einsatz der besten beherrschbaren Technik und der geeigneten Baustoffe. Da Bauwerke kein kurzlebiges Verbrauchsgut sind und umweltbewusstes Denken die Vermeidung von Abfallmaterial verlangt, sind die Bauenden zu bestmöglicher Qualität als Voraussetzung für Dauerhaftigkeit verpflichtet. Baukunst ist stets eine Gemeinschaftsleistung. Die Verantwortung liegt beim Bauherrn, der den Auftrag erteilt, dem entwerfenden Architekten und planenden Bauingenieur, den Einfluss nehmenden Baubehörden und dem ausführenden Unternehmer. Nur ihr Einvernehmen beim auf das Bestmögliche gerichteten Streben wird vorzeigbare Ergebnisse hervorbringen.
Unsere Gegenwart muss sich gegen zweitausend Jahre europäischer Baukultur behaupten können. Es ist nicht zu leugnen, dass nicht nur die Formen der Bauten gelitten haben, sondern auch die Qualität jener Vorhaben, bei deren Durchführung die hier aufgezählten Voraussetzungen nicht berücksichtigt wurden: verantwortungsvolle und zweckgerechte Planung, harmonisches Einfügen in die bestehende bauliche Umgebung und Landschaft, Berücksichtigung ökologischer, ökonomischer und werterhaltender Faktoren. Der Stellenwert des Bauens innerhalb einer Volkswirtschaft ist groß. In Europa machen die Bauwerke etwa 40 Prozent des gesamten Geld-und Sachvermögens der Volkswirtschaften (sogenannter Wiederbeschaffungswert) aus. Das jährliche Bauvolumen liegt bei etwa einem Sechstel der Inlandsproduktion; es wird von etwa einem Zwölftel der Erwerbstätigen erbracht.
Baukultur und Wirtschaftlichkeit dürfen nicht als Gegensätze betrachtet werden – auch Schlechtes ist oft teuer. Neue Baustoffe und Bauverfahren sind von Haus aus weder gut noch böse. In der Baugeschichte haben sich die Baumeister den Erfordernissen ihrer Zeit stellen müssen und haben wertvolle Erfahrungen hinterlassen, die nicht vernachlässigt werden sollten, die jedoch der Bauingenieur von heute werk- und zeitgerecht durch wissenschaftliche Erkenntnisse für die hochspezialisierten Gegenwartsaufgaben erweitert. Insbesondere im Tiefbau wurden staunenswerte neue technische Lösungen und Verfahren gefunden. Andererseits: Die Missachtung bauphysikalischer, bauchemischer und baubiologischer Gesichtspunkte erweist sich früher oder später als schädlich. Es besteht eine befruchtende Wechselwirkung zwischen Erfordernissen eines Zeitalters und den durch sie gestellten Aufgaben an die Bauingenieure einerseits und den neuen Entwicklungen in der Bautechnik und bei den Baustoffen andererseits – und zwar in beiden Richtungen! Ansprüche beispielsweise des Verkehrs fördern bautechnische Fortschritte, die wiederum Verkehrsprobleme entschärfen: Untertunnelungen beruhigen Stadtbereiche, Brücken verkürzen Anfahrten und ähnliches.
Der Werteverfall in wichtigen Bereichen unseres Lebens und Denkens kann nicht ohne Auswirkung auf die zeitgenössische Baukultur bleiben. Ideologische Verbohrtheit und modischer Unernst werden nicht nur in Wort und Bild zum Zeitspiegel, auch die Bauten sprechen nicht selten vom Verlust des Grundlegenden und der Maßstäbe. In der Vergangenheit war der Einfluss der Auftraggeber auf das Baugeschehen ungleich stärker als heute. In der neueren Zeit haben Theorien, Dogmen und Kurzzeit-Moden oftmals den Rang der Bauwerke, der auch ihre Wertbeständigkeit einschließt, beeinträchtigt. Zu den Folgen gehören unwirtlich-nüchterne Häuser und gestaltlose, lebensfeindliche Städte. Erwartungen an die Zukunft und Wege zum menschenfreundlichen Bauen. Zum unentbehrlichen Fachwissen der am Bau Beteiligten sollte wieder die Verantwortlichkeit für ein Ganzes treten. Die Ausbildung der Architekten und Bauingenieure bedarf weniger der Reform als der Besinnung auf nach wie vor geltende Ziele und bewährte Methoden, damit die Fähigkeit zum Entwickeln zugleich nützlicher wie auch schöner Bauten gefördert wird, so dass weder der Nur-Techniker noch der versponnene Phantast das letzte Wort haben. Es ist schlimm genug, dass wir in vielen Bereichen einer Wegwerfmentalität frönen, unsere Bauten sollten ihr nicht unterliegen. Das Verfahren der Auftragsvergabe sollte verbessert werden, denn Wettbewerbsausschreibungen und Preisverleihungen in der heute üblichen Art schließen Absprachen keineswegs aus und führen nicht selten zu verwässerten Kompromissen, oft genug zu enttäuschenden Entscheidungen. Stures Beharren auf pseudomodernen Formen bringt die Entwicklung zu Besserem nicht voran. Ideologische Gängelung des Nachwuchses ist eines freiheitlichen Gemeinwesens unwürdig und hemmt die Hebung der Baukultur. Unsichere Verantwortliche sollten sich fragen, ob sie noch in der Zukunft zu ihren Beschlüssen stehen können und ob sie hoffen dürfen, dass die Enkel sagen: Das habt ihr recht gemacht.
„Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke, wenigstens ohne Werke großen Stils. Die auf den ersten Blick so ungeheure Steigerung bleibt in der Sphäre unverantwortlichen Privatgefühls, und ihre schönsten Leistungen liegen in der Intimität des Gemüts. Alles Geistige, auch die Kunst selbst, werden in ihrem Wesen verändert, ja verfälscht, wenn das Ästhetische verabsolutiert und zum Mittelpunkt erhoben wird. Darin liegt die erste und einfachste Erklärung der scheinbar so verwickelten Widerspruchsfülle des Romantischen.“ (Carl Schmitt: „Politische Romantik“; Duncker & Humblot Verlag, 6. Aufl., Berlin 1998; S. 16f.)
Dass im unsteten Zeitgeist sich ein Baustil oder auch nur ein Formenkanon offensichtlich nicht auszubilden vermag, auch nicht national oder regional, noch weniger im, wie man sagt, durch gemeinsame Werte verbundenen Europa, ist auch für den zuversichtlichsten Betrachter klar. Aber die Ästhetik! Wäre nicht ein wieder zur Geltung gekommener Schönheitssinn, ein Streben nach Ausgewogenheit, mehr noch, nach Harmonie, ein erster Schritt zu einem Zeitstil? Es gibt Beispiele für zugleich gute und schöne Bauten auch in der Gegenwart, aber nicht genug. Noch weniger befriedigend ist die Rücksichtnahme bei Neubauten auf deren landschaftliche oder bebaute Umgebung. Großmannssucht und Ellbogengebrauch einerseits, geistlose Routine andererseits schaffen Hässlichkeit.
Schönheit ist ja anschauenswert und somit zugleich schonungsbedürftig, Hässlichkeit ist hassenswert – das deckt die Wortstammgeschichte auf. Nach 1945 wurden wir ermahnt, uns Manipulationen nicht zu beugen. Wir unterliegen dieser Gefahr heute durch ideologisierte Formzerstörung.