Von allen Künsten ist die Architektur jene, die uns Tag für Tag auf Schritt und Tritt begegnet. Sie erfreut jeden Empfindungsfähigen mit ihren geglückten Werken und belästigt ihn mit den missratenen oder von Haus aus hässlichen.
Die empfangenen Eindrücke wirken auf uns, auf den Musischen mehr als den Stumpfen, zum Guten oder Schlechten. Auf Dauer wehren sich die Sinne durch Nichtbeachtung; diese Gewöhnung ist schlimm. Wer hätte nicht schon wahrgenommen, dass uns das Schreiten in ansehnlicher Umgebung, entlang einer gut gegliederten Straße mit angenehmen Hausansichten beschwingt, der Gang durch eine widerwärtige Gegend dagegen schleppend wird?
Der Begriff „Architekt“ ist gebildet aus dem griechischen arche, „Anfang“, und tekton, „Baumeister“. Er ist also ziemlich der Gegensatz zum Anarchisten, dem Führer- und damit Zügellosen. Ein Dekonstruktivist ist dann mit einigem Recht ein „Anarchitekt“ zu nennen.
Das Entlanglaufen an nichtssagenden Fassaden kann zur Qual werden. Ein in der Ferne auftauchender schöner Bau wird uns anziehen, ein kläglicher oder missgestalteter wird uns hemmend im Wege stehen. Wem das noch nicht bewusst wurde, erprobe es. Büchern, Bildern und Musikdarbietungen kann man sich, wenn sie missfallen, entziehen, man braucht sie nicht zu lesen, kann sie übersehen oder meiden; den Bauten jedoch kann man nicht entkommen, weder ihrer äußeren noch inneren Gestalt.
„Am Anfang müsste die Erkenntnis stehen, welche Verkürzungen unserer Existenz uns alltäglich zugemutet werden. Denn der demoskopisch ermittelte Zufriedenheitspegel der Bewohner und der Selbstzufriedenheitspegel der Planer lassen nach wie vor darauf schließen, dass diese Einsicht trotz aller Lamentos noch wenig verbreitet ist.“ (Pehnt Wolfgang: „Der Anfang der Bescheidenheit“; Prestel Verlag, München 1983; S.17.)
Aus mancherlei Gründen kann man die Bewertung unseres Baugeschehens nicht allein den Architekten überlassen. Nicht wenige von ihnen sind befangen in mehrfacher Weise. Oft huldigen sie, mehr als es der Bezug zur Gegenwart fordert, einem flatterhaften Zeitgeist, folgen angepasst (un)ästhetischen Ideologien und allzu flüchtigen Moden. Anders als Bildwerke sind die Bauten ihrem Wesen nach auf ein längeres Überdauern angelegt. Dem gewandelten Bewusstsein folgend, entrichten auch Bauherren und Architekten dem Zeitgeist ihren Tribut: Wo zuvor Maß und Vornehmheit im Vordergrund standen, sind es jetzt oft Geltungsdrang und Gewinnstreben. Insoweit sind die Prunkbauten einer missverstandenen, dem Materiellen unangemessen huldigenden Moderne durchaus aussagekräftig; ihre Auswüchse sind inzwischen Gegenstand historisch-kritischer Betrachtung. Auftraggeber selbst sind heute, verglichen mit jenen der Vergangenheit, von anderer Art. Fürsten, Kirchenobere und autoritäre Staatslenker haben ihre Erwartungen deutlicher kundgetan, als es die demokratischen Gremien, Unternehmer oder Bankiers vermögen. Zwar wollen auch sie sich in Bauten „darstellen“, es fehlen ihnen indes allzu oft eine an Traditionen geschulte Geschmackssicherheit und das nötige Quäntchen Muße. Sie sind nur selten in der Lage, auf Abwege geratene Planer überzeugend zur Ordnung zu rufen. Noch aus einem anderen Grund haben es die Baumeister heute schwerer: Sie finden zerklüftete Städte, von Großmärkten durchsetzte Vororte und wuchernde Wohnsiedlungen vor. Wo einst leidlich organisch entwickelt werden konnte, wird in unseren Tagen mit Baggern freigeräumt, werden in gewachsene städtische Gesamtkörper Wunden gerissen. Stilvolles Bauen fördernde Elemente, weil zur Strenge erziehend, sind weggefallen: die Leichtfertigkeit einschränkenden Erfordernisse herkömmlicher Baustoffe, „Stein auf Stein“, und hilfreiche Zwänge der Statik. Nicht selten werden heute um modischer Effekte willen Grundsätze missachtet, die uns eine Stadt wie das einzelne Haus liebenswert machen. Je mehr Technik zur Verfügung steht und die Formenvielfalt wächst, umso mehr ist der gute Geschmack gefragt.
Baukunst — das bedeutet ein Geflecht von Forderungen, die nur mit Meisterschaft zu einem geglückten Ganzen zusammenzuführen sind: Nutzen und Schönheit, der Eigenwert des einzelnen Bauwerks einerseits und sein Zusammenspiel mit dem architektonischen und landschaftlichen Umfeld andererseits, seine Zeitgemäßheit hier und die Vergänglichkeit alles Manierierten, Gesuchten und Gezwungenen dort. So nähert sich die Baukunst heute durch die im Technischen erreichte Freizügigkeit den Gefährdungen der Beliebigkeit, denen Maler und Bildhauer seit längerem ausgesetzt sind. Bislang waren ebene Fußböden als Standfläche, standfeste Wände und schützende Dächer unverzichtbare Merkmale des zweckvollen Bauens — seit Einbruch des „Dekonstruktivismus“ scheinen auch sie verzichtbar. Wovon einzelne Schwärmer der Romantik träumten, Häuser in Kugelform oder als auf eine Ecke gestellte Würfel, aus Metall und Glas sind sie leicht anzufertigen. Sie kommen damit den „absoluten“ Schöpfungen der Gegenstandslosen, etwa dem „Weißen Quadrat auf weißem Grund“ (von Kasimir Malewitsch) nahe. Mit dem Effekt schwindet der Nutzen!
„Die Baustoffe, die Statik, die Technologie der Konstruktion, die gute wirtschaftliche Rentabilität, die funktionalen Erfordernisse sind die Vokabeln des architektonischen Gesprächs. Es ist unmöglich, dieses Gespräch zur Poesie (Architektur) und nicht einmal zur direkten Prosa (gutes Bauen) zu erheben, ohne die perfekte Kenntnis solcher Vokabeln und ohne das Wissen um die Regeln der Grammatik, der Syntax (Technik), nach denen die komponiert sein müssen.“ (Pietro Luigi Nervt, zitiert nach Herbert Ricken: „Der Bauingenieur – Geschichte eines Berufes“; Verlag für Bauwesen, Berlin 1994; S.160.)
Das Gewicht der Baukunst in der Gesamtkultur eines Volkes ist erheblich. Das Erbauen eines schützenden Hauses ist eines der Urbedürfnisse des Menschen neben Familiengründung und Nahrungssuche. Als einem Kulturwesen bedeutet es ihm bald mehr als nur bergendes Gehäuse – es wird zu seinem Heim. Woran oft nicht gedacht wird: Nur etwas mehr als die Hälfte der gesamten Bauleistung wird in unseren Tagen für Wohnstätten erbracht. Auch Schöpfungen außerhalb des Wohnungsbaues gehören zur Baukultur; Bauwerke dienen in vielfältiger Weise dem Leben – als Heimstatt, öffentliches Bauwerk, Produktionsstätte, Verkehrsweg, Ver- und Entsorgungsstrang.
(Fortsetzung folgt.)