Dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) kommt als negativem Gesetzgeber eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Verfasstheit unseres Staates zu. Die Suprematie, vom lateinischen supremus „der Oberste“, des VfGH über das Parlament wirft zuvorderst die Frage auf, ob es eine Oberhoheit von bestellten Juristen über gewählte Parlamentarier überhaupt geben soll. Einheitlich wurde diese Frage nicht beantwortet, es scheiden sich darüber, mitunter auch situationsbedingt und anlassbezogen, seit die Verfassungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert erfunden wurde, die Geister. Grundsätzlich bezweckt man durch die Verfassungsgerichtsbarkeit die Bindung der Demokratie durch sich selbst, weshalb die Richter des Verfassungsgerichtshofes gemäß Art. 147 Abs. 2 B-VG vom Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt werden. Um die Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit dann trotzdem sicherstellen zu können, muss der VfGH ein gewisses Selbstverständnis an den Tag legen.
Es kann als Meilenstein in der Geschichte des VfGH betrachtet werden, dass dieser am 11.10.2001 zu G 12/00 erstmals eine Verfassungsbestimmung aufgehoben hat. Der mit diesem Erkenntnis aufgehobene § 126a BundesvergabeG idF BGBl. I 2000/125 erklärte alle am 1.1.2001 in Geltung stehenden landesgesetzlichen Bestimmungen über die Organisation und Zuständigkeit von Organen, denen der Rechtsschutz hinsichtlich der Vergabe öffentlicher Aufträge obliegt, als „nicht bundesverfassungswidrig“. Während man verfassungswidriges Verfassungsgesetz bisweilen toleriert hatte, hat sich der VfGH hier erstmals „drüber getraut“. Davor hatte er die verfassungsrechtliche Grenze der einfachen Verfassungsgesetzgebung nur angedeutet.
Ganz nebenbei hat der Verfassungsgerichtshof aus Art. 7 B-VG eine Art „Supergrundrecht“ gemacht. Die ursprünglich als Verbot historischer Privilegien (Geschlecht, Stand, Klasse, Bekenntnis) gedachte Bestimmung wurde zu einem Sachlichkeitsgebot für den Gesetzgeber und zu einem allgemeinen Willkürverbot für die Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Besonders die zuletzt aufgezeigte Ausprägung des Gleichheitssatzes ermöglicht es dem VfGH einerseits über den Umweg der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit iSd Art. 144 B-VG Entscheidungen von Verwaltungsbehörden und andererseits gemäß Art. 140 Abs. 1 Z. 1 lit. d B-VG Urteile von ordentlichen Gerichten an der Verfassung bzw. dem was er darunter versteht, zu messen. Während letzteres bislang – soweit überblickbar – noch nicht geschehen ist und eines Taschenspielertricks bedürfte, die Bestimmung ist überdies erst seit 1.1.2015 in Kraft, wurden schon zahlreiche Entscheidungen aufgehoben. Auch jüngst.
So hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.6.2017 zu E 875/2017 bzw. E 886/2017 ausgesprochen, dass das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in seiner Entscheidung zur dritten Piste des Flughafens Wien-Schwechat willkürlich entschieden habe. Es sei weder aus dem BVG Umweltschutz noch aus § 3 BVG Nachhaltigkeit ein absoluter Vorrang von Umweltschutzinteressen gegenüber anderen Entscheidungsdeterminanten ableitbar ist. Auch Staatszielbestimmungen seien mehr oder weniger unbeachtlich, diese bedürften eines „finalen Determinierungsaktes“. Mit anderen Worten: Staatszielbestimmungen sind politische Notwendigkeiten, in die richterliche Beurteilung haben diese nicht einzufließen. Besonders interessant ist auch die Feststellung, dass das Bundesverwaltungsgericht in „in erster Linie rechtspolitischer Weise“ völkerrechtliche, unionsrechtliche und einfachgesetzliche Maßnahmen beurteilen würde und aus der Nichterreichung von Klimazielen Schlussfolgerungen für die Bewilligungsfähigkeit eines Projektes ziehen würde. Dies obwohl der zuständige Gesetzgeber hierfür keine gesetzliche Anordnung getroffen hätte. So argumentiert der VfGH, wenn er von ihm nicht gewünschte Entscheidungen aufheben will. Denn dann sind sie mit Willkür belastet, was einen Verstoß gegen Art. 7 B-VG darstellt.
Von einer willkürlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes spricht der VfGH auch in seinem Erkenntnis vom 14.6.2017 zu E 1486/2017. Hier geht es um einen afghanischen Abenteurer, der gemäß Dublin-III Verordnung zur Überprüfung seiner Schutzbedürftigkeit nach Ungarn rückgeführt wurde. In diesem Fall wurde laut VfGH das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt. Dazu wird ausgeführt, dass sich das BVwG nicht damit auseinandergesetzt habe, dass das ungarische Parlament am 7.3.2017 beschlossen habe die Rechtslage bezüglich der Inhaftierung von Asylwerbern in Ungarn zu ändern. Im gegenständlichen Erkenntnis wird ein Bericht des UNHCR vom 7.3.2017 zitiert, wonach „Asylsuchende, darunter auch viele Kinder, während ihres Asylverfahrens in Ungarn interniert werden sollen. In der Praxis bedeutet das, dass alle in Ungarn aufhältigen Asylsuchenden für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens in Containern untergebracht werden sollen. Diese befinden sich, umgeben von hohem Stacheldraht, an der Grenze zu Serbien. Mit diesem neuen Gesetz verstößt Ungarn sowohl gegen europäisches, als auch gegen internationales Recht. Die geplante Verordnung stellt schwerwiegende körperliche und psychische Belastungen für Frauen, Männer und Kinder dar, die bereits großes Leid erfahren mussten.“ Da sich das BVwG mit diesem Bericht nicht auseinandergesetzt hat, sei seine Entscheidung mit Willkür belastet und daher aufzuheben.
Man könnte dem Verfassungsgerichtshof angesichts dieser Entscheidungen vorwerfen das Willkürverbot willkürlich anzuwenden. Präzisierend könnte man sagen, dass damit politischen Entscheidungen, gerne auch nach Zuruf, Tür und Tor geöffnet wird.
Politisch agiert der Verfassungsgerichtshof auch in seiner Kernaufgabe als negativer Gesetzgeber. Hier wurde ihm unlängst das Bundesgesetzes über die Enteignung der Liegenschaft Salzburger Vorstadt Nr. 15, Braunau am Inn, BGBl. I 4/2017 zur Prüfung vorgelegt. Am 30.6.2017 entschied der VfGH zu G 53/2017, dass das gegenständliche Maßnahmengesetz, also eine Legalenteignung, nicht verfassungswidrig sei. Es liege kein verfassungsrechtlich verpöntes Sonderopfer vor da es außer Frage stehe, dass das Geburtshaus Adolf Hitlers „gegenüber anderen historisch belasteten Objekten ‘besonderes Identifikationspotential’ mit sich bringe, weshalb ein Vergleich mit Enteignungen anderer Objekte von vornherein ins Leere geht.“ Hier hat der Verfassungsgerichtshof das politische Auftragsgeschwafel von Berufsbetroffenen übernommen. Doch auch dieses Geschwafel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Enteignung nur dann zulässig ist, wenn „das Objekt der Enteignung überhaupt geeignet ist, den Bedarf unmittelbar zu decken und es unmöglich ist, den Bedarf anders als durch Enteignung zu decken.“
Man kann Adolf Hitler nicht aus der Welt schaffen. Man kann auch nicht aus der Welt schaffen, dass Adolf Hitler in dieser Immobilie geboren wurde. Eine Dekonstruktion und Entmystifizierung durch Abriss der Immobilie soll es nach Meinung der Berufsbetroffenen nicht geben und steht dem auch der Denkmalschutz entgegen. Der Bedarf, also eine Umgestaltung und Nutzung, wäre auch ohne Enteignung möglich gewesen und wird die künftige Nutzung der Immobilie uns recht geben. Ob es dann zu einer Rückübereignung kommen wird? Der Anspruch darauf besteht bei einer zweckverfehlenden Enteignung jedenfalls unmittelbar aus der Verfassung.
Besonders grotesk wird es außerdem, wenn der Verfassungsgerichtshof auf seine im Zuge der ANR-Kanditatur ergangene Entscheidung vom 15.3.1986 zu B 416/81 verweist, wonach „§ 3 des im Verfassungsrang stehenden Verbotsgesetzes ein unmittelbar wirksames, von jedem Staatsorgan im Rahmen seines Wirkungsbereiches zu beachtendes Verbot enthält.“ An dieser Stelle sei der VfGH daran erinnert, dass es höchst an der Zeit wäre das Verbotsgesetz in anhängigen Rechtssachen auf seine Verfassungskonformität hin zu überprüfen. Sich auf die ständige Rechtsprechung zu berufen, wonach das Verbotsgesetz aufgrund seines Ranges als Verfassungsgesetz nicht zu überprüfen wäre, geht fehl. Mit der obig erwähnten Entscheidung zu G 12/00 hat der VfGH jedenfalls einen Schritt in die richtige Richtung gesetzt. Auch ständige Rechtsprechung stellt keine Rechtsgrundlage dar, auf welche man die Richtigkeit einer Entscheidung stützen kann. Der Verfassungsgerichtshof steht nicht über der Verfassung, sondern wacht über ihre Einhaltung und Judikaturänderungen kommen bei allen Höchstgerichten vor. Wenn eine, auch in ständiger Rechtsprechung praktizierte, Judikaturlinie unhaltbar geworden ist, hat auch ein Verfassungsgericht von seiner Rechtsprechung abzugehen.